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Stimmen aus dem Leben: Bisans Fluchtgeschichte

Aktualisiert: 10. Okt.

In berührenden Worten teilt Bisan, eine junge Österreicherin mit palästinensischen Wurzeln, ihre Fluchtgeschichte. Ihre Familie floh von Palästina nach Syrien nach Österreich, wo Bisan seit 2016 lebt und heute ihrem Traumstudium Pharmazie nachgeht.


Meine Fluchtgeschichte

Meine Fluchtgeschichte begann Jahrzehnte vor meiner Geburt. Die Flucht ist etwas, was uns ausmacht, zu uns gehört. Im Jahr 1948 mussten meine Großeltern väterlicherseits und Urgroßeltern mütterlicherseits ihr Dorf in Safed willkürlich verlassen. Überhaupt, dass es mich heute gibt, ist einem Wunder, das an jenem Tag passiert ist, zu verdanken. Meine Urgroßmutter hatte ihren neugeborenen Säugling, meine Oma, auf dem Fluchtweg verloren. Hätte meine Urgroßmutter meine Oma nach langem Suchen nicht gefunden, würde ich heute diesen Text nicht schreiben können.


Der Weg brachte meine Familie und viele andere nach Syrien, Damaskus. Sie durften sich am Rande der Stadt ihren Wohnort errichten und langsam und mit der Zeit wurde aus dem Stadtrand eine eigene „Mini-Stadt“ mit knapp einer Million Einwohner:innen: das Yarmouk-Camp. Das kleine Palästina in Damaskus. Lebendig, liebevoll, modern, von Bazaren bis Schulen hin zu Krankenhäusern, alles war da. Unser Zuhause. 

In Syrien gelten Palästinenser:innen trotz der ganzen Jahre und trotz all dem, zu dem wir beigetragen haben, noch immer als Flüchtlinge. Das waren wir auch. Man kommt dort auf die Welt und verlässt sie mit dem Titel „Flüchtling mit einem kurzfristigen Aufenthaltstitel." Das war jener Titel, der uns ausmachte und auf unseren ID-Cards zu lesen war. Immer. Ein Flüchtling, nicht mehr. 

Im Jahr 2011 begann sich der Krieg in Syrien zu entwickeln und obwohl wir in dem Land selbst als Geflüchtete galten, nahmen wir Menschen, die aus den Nebenstädten geflohen waren, bei uns auf. In den Schulen, Moscheen, sogar in den eigenen Wohnungen, überall wurden sie willkommen geheißen. 

Doch dann, 2012, brach der Krieg komplett aus und obwohl Damaskus am Anfang nicht betroffen war, wurde unsere „Mini-Stadt“ bombardiert. Am 17.12.2012 flohen die Palästinenser:innen aus ihrem „Mini-Palästina“ - wieder willkürlich. Genauso wie es sich heute in Gaza abspielt, spielte es sich auch damals ab. Es gab eine Blockade, Hilfsgüter wurden nicht reingelassen. Leute, die sich gegen die Flucht entschieden und in ihren Häusern blieben, darunter auch Mitglieder meiner Familie, mussten mit dem Hunger kämpfen. Einige überlebten den Hunger nicht und verstarben. 


Von da an begann für mich der Fluchtweg, damals mit sieben Jahren. In der Nacht, bevor wir geflohen waren, wurde mein Onkel Hussain, damals 29 Jahre alt, Vater einer kleinen Tochter, dreimal angeschossen. Denn es war kaum möglich, ihn in der Früh aus der Stadt ins nächste Krankenhaus zu bringen. Als mein Opa es doch geschafft hatte, ihn ins Krankenhaus zu bringen, wollten sie meinen Onkel nicht aufnehmen; er sei nicht dieselbe Person wie auf der ID-Card. Als sie ihn dann doch aufnahmen, stellte sich heraus, dass es keinen Strom gab, um die Beatmung zu ermöglichen. Mein Onkel musste sterben. Der Tag, an dem wir flohen, war der Tag, an dem uns der Tod begleitete.


In Damaskus, im Krieg, eine Wohnung als Palästinenser oder Palästinenserin zu finden, war kaum möglich, weshalb wir innerhalb eines Jahres 11 mal umziehen mussten. 

Der Höhepunkt


2014 brach der Krieg völlig aus. Um den Menschen Angst einzujagen, fing die damalige Regierung an, Leute willkürlich zu verhaften, zu foltern und in den Gefängnissen umzubringen. Grund des Verhaftens? Gab es nicht, der wurde erfunden und die Häftlinge mussten sich unter Folter als einverstanden erklären. 

Am 28.04.2014 wurde mein ältester Bruder, Ahmad, damals erst 20 Jahre alt, ein Student, willkürlich verhaftet. Über den Grund wissen wir bis heute - elf Jahre später - noch immer nichts, genauso wie über sein trauriges Ende. Es ist so, als hätte es meinen Bruder nie gegeben. Als hätte er nie existiert. Einfach weg. Für immer, weil die Regierung über sein Leben entscheiden durfte.


Nach all dem, was passiert ist, entschieden meine Eltern, dass meine zwei anderen Brüder, damals 19 und 15 Jahre alt, die Flucht auf sich nehmen müssen. Zu ihrem eigenen Schutz. Vier Monate waren sie auf der Flucht zwischen Meer, Bergen und Wäldern. In Österreich kamen sie Anfang des Jahres 2015 an. Da mein Bruder noch minderjährig war, durften meine Eltern und ich am 01.04.2016 nachkommen, auf „legale“ Art und Weise. 

Die Ankunft in Österreich


In Österreich angekommen, war ich 10 Jahre alt. Im darauffolgenden Schuljahr ging ich wieder in die Schule, um meinem Traum nachzugehen. Zwei Jahre später wechselte ich ins Gymnasium. Im Jahr 2024 maturierte ich mit einem guten Erfolg, ohne je eine Klasse wiederholen zu müssen. Heute schreibe ich diesen Text, nachdem ich mein Traumstudium begonnen habe: das Pharmaziestudium. 

Mittlerweile sind meine Brüder und ich österreichische Staatsbürger:innen. Für unsere Eltern dauert es noch ca. ein Jahr. 

Die Stärke liegt darin, nicht aufzugeben. Denn alles um einen herum, selbst Jahrzehnte vor der eigenen Existenz, will dass man nicht weitermacht. Doch wir müssen weitermachen, weiterleben, weiterlieben. Für uns und für alle jene, die von uns gegangen sind. 

Für immer in Erinnerung an meinem Ahmad


Bisan Amairi


 
 
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